Niederschlagswasser - Anschluss- und Benutzungszwang

Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes vom 10. November 2008

- Vf. 4-VII-06 -

Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hatte über eine Popularklage mehrerer Bürger aus einer kleinen Ortschaft in Niederbayern zu entscheiden. Die dortige Gemeinde betreibt zur Abwasserbeseitigung eine Entwässerungsanlage überwiegend im Trennsystem. Der Ortsteil, in dem die Kläger wohnen, wurde vor einigen Jahren an die zentrale Abwasserbeseitigungs-anlage angeschlossen und zwar getrennt nach häuslichem Schmutzwasser und nach Niederschlagswasser. Für die Niederschlagswasserableitung wurden zum großen Teil die vorhandenen Straßenentwässerungsgräben und -kanäle verwendet. Das Niederschlags-wasser wird in zwei Gräben abgeleitet. Die Gemeinde verpflichtete die betroffenen Grundstückseigentümer, das gesamte auf ihrem Grundstück anfallende Schmutzwasser in die Schmutzwasserkanäle einzuleiten und ihre Oberflächenentwässerung an die Regenwasserkanäle anzuschließen.

Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat die Bestimmungen in der Entwässerungs-satzung, die den Anschluss an die gemeindliche Entwässerungseinrichtung und deren Benutzung anordnen, als unvereinbar mit der Bayerischen Verfassung angesehen. Die Regelungen verstoßen nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil die Gemeinde keine hinreichenden Gründe des öffentlichen Wohls dargelegt hat, die einen solchen Anschluss erfordern.

Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat in dieser Entscheidung zunächst klargestellt, dass er Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 der Gemeindeordnung prinzipiell als taugliche Rechtsgrundlage für einen Anschluss- und Benutzungszwang auch bezüglich der Einleitung von Niederschlagswasser ansieht. Er hat sich damit von der Rechtsprechung in anderen Bundesländern, namentlich in Nordrhein-Westfalen distanziert. Die Mustersatzung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 30.05.1988 sieht in § 4 Abs. 5 vor, dass ein Benutzungsrecht nicht besteht, soweit eine Versickerung oder anderweitige Beseitigung von Niederschlagswasser ordnungsgemäß möglich ist. Nach der Mustersatzung wird der Versickerung des Niederschlagswassers Vorrang vor einer Einleitung in die öffentliche Entwässerungseinrichtung eingeräumt. Wenn kein Benutzungsrecht besteht, ist der betroffene Grundstückseigentümer auch nicht verpflichtet, sein Grundstück hinsichtlich des Niederschlagswassers an die Entwässerungseinrichtung anzuschließen und diese zu benutzen.

Die Gemeinden sind nach dem Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes berechtigt, von § 4 Abs. 5 der Muster-EWS abzuweichen und einen Anschluss- und Benutzungszwang auch für das Niederschlagswasser anzuordnen. Für eine solche Regelung bedarf es aber einer besonderen Rechtfertigung. Wie sich aus dem Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 GO, der einen Benutzungszwang u.a. für „ähnliche der Gesundheit dienende Einrichtungen“ vorsieht, ablesen lässt, kann ein Anschlusszwang vor allem aus Gründen der Volksgesundheit in Betracht kommen. Solche Gründe müssen nicht für jedes einzelne erfasste Grundstück gegeben sein. Vielmehr genügt es, wenn sie im Geltungsbereich des Anschluss- und Benutzungszwanges vorhanden sind. Als Beispiel nennt der Verfassungsgerichtshof besondere Verhältnisse des Untergrundes, die Lage in städtischen Verdichtungsbereichen, der Schutz des Grundwassers, sonstiger Gewässer oder von Trinkwasserreservoiren. Auch die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Kläranlage kann eine generelle Einleitung des Niederschlagswassers erfordern.

Der betroffenen Gemeinde hat der Verfassungsgerichtshof die Verpflichtung auferlegt, ausreichend fundierte Untersuchungen vorzulegen, die den generellen Anschluss- und Benutzungszwang für die Einleitung von Niederschlagswasser rechtfertigen können. Nur wenn ausreichende Gründe des öffentlichen Wohls tatsächlich nachgewiesen seien, werde dem Rechtsstaatsprinzip genüge getan.

Allen Gemeinden, die § 4 Abs. 5 der Muster-EWS nicht übernommen haben, ist deshalb dringend zu empfehlen, den Anschluss-und Benutzungszwang für die Einleitung von Niederschlagswasser daraufhin zu überprüfen, ob diese Regelungen aus den oben genannten Gründen gerechtfertigt sind. Andernfalls besteht die Gefahr, dass zukünftige Beitrags- oder Gebührenbescheide erfolgreich angefochten werden.